Joi und ich lernen nun seit zwei Jahren gemeinsam. Damals war sie drei, jetzt ist sie schon stolze fünf Jahre alt. Heute beschreibe ich in meinem Artikel, wie Joi mir gezeigt hat, dass der Violinschlüssel nicht so gemalt werden "muss", wie ich denke. Oft zeigen mir meine Schüler, auch gerade die Jüngsten, wie ich die Dinge auf eine neue Art und Weise sehen kann. Und das eröffnet einem ganz neue Perspektiven...
Joi ist im Moment von den Violinschlüsseln fasziniert und möchte sie immer wieder malen („Bassschlüssel geht viel zu einfach“, sagt sie). Das machen wir jetzt schon seit ein paar Wochen immer wieder. Meistens male ich dann einen Violinschlüssel mit Bleistift vor, den sie mit einem schönen bunten Filzer nachzeichnet.
Doch heute hat Joi eine neue Idee. Und diese verblüfft mich total, denn ich wäre nie drauf gekommen...
Viele Wege führen nach Rom...
Der Violinschlüssel hat ja eine recht komplexe Form, und so findet Joi immer wieder neue Wege, den Stift auf den Linien entlang zu führen,
....zum Beispiel so....
...oder so...
Es gibt natürlich auch die Möglichkeit, den Schlüssel in einem Zug zu malen, indem man in der Mitte beginnt und der geschwungenen Linie bis unten hin folgt. Diesen Weg hat Joi bisher noch nicht gefunden. Ich habe sie schon ein paar mal auf diese Möglichkeit aufmerksam gemacht, aber sie ist ihrem in meinen Augen komplizierteren System treu geblieben.
...und man kann alles auch von zwei Seiten sehen...
Vorgestern, als sie wieder die Violinschlüssel malen möchte, schlage ich vor, dass ich sie erst wieder mit Bleistift vorzeichne. Doch Joi möchte die Sache heute anders angehen: sie schlägt ihr Notenheft auf. Auf der neuen, leeren Seite sind die Notenschlüssel durchgedrückt zu erkennen, die wir auf der vorigen Seite gezeichnet haben. Joi nimmt einen Filzer und fährt die Linien nach, die sie von dem durchscheinenden Schlüssel auf der vorigen Seite erkennen kann. Weil die Seite ja umgeschlagen ist, ist der Schlüssel spiegelverkehrt. Aber: Joi zeichnet diesen Schlüssel in einem Rutsch von der Mitte aus bis unten hin durch!
Aha, denke ich, jetzt hat sie´s! Joi hat in ihrer eigenen Zeit verstehen können, wie der Violinschlüssel aufgebaut ist, ohne dass ich ihr mein eigenes Verständnis der Form aufgedrückt hätte. Vielleicht konnte sie den spiegelverkehrten Schlüssel auch deshalb besser zeichnen, weil ihr Gehirn die spiegelverkehrte Form nicht mit dem Weg des Nachzeichnens verbunden hat, den sie vorher immer genommen hat! Die neue – spiegelverkehrte – Sichtweise hat ihr damit die Möglichkeit gegeben, anders an die Sache heran zu gehen.
Auf diese Idee wäre ich niemals gekommen!
So lerne ich durch meine Schüler, die Welt jeden Tag auf eine andere, auf eine neue Art und Weise zu sehen. Lernen heisst eben Erforschen - auch für die "Lehrerin"...
Kannst du dich an ein Erlebnis erinnern, bei dem dir (d)ein Kind beigebracht hat, die Dinge neu und anders zu sehen? Was hat das für dich verändert?