Marie ist vor zwei Wochen in die Erste Klasse gekommen. Letzte Woche war sie ganz stolz, als sie mir das erzählte. Gestern fragte ich sie, wie es denn morgens in der Schule so gewesen sei. Da guckte sie mich mit großen verweinten Augen an und rief: „Doooooooooooof!“, worauf ihr gleich wieder die Tränen kamen.
Ihre Mutter erzählte mir dann, dass sie mit Kopfschmerzen aus der Schule gekommen sei und sie sich den Nachmittag über ganz matschig gefühlt hätte.
Das Erlebnis mit Marie ist kein Einzelfall. Ich mache häufig die Erfahrung, dass die Kinder sehr von der Schule in Anspruch genommen sind und sie vor lauter Stress manchmal kaum noch lächeln können. Symptome wie Kopfschmerzen scheinen mir nicht selten vorzukommen.
Seit ich wahrnehme, wie sehr der Druck in der Schule zugenommen hat, hat sich meine Art zu unterrichten verändert.
Lernen ohne Leistungsdruck
Es ist mir immer mehr bewusst geworden, dass es den Kindern nichts nützen würde, wenn von meiner Seite auch noch Ansprüche an sie gestellt würden, die sie einfach nicht erfüllen können.
Musik machen soll Spaß machen – und nicht auch noch in Leistungsdruck ausarten. Was nicht heisst, dass die Kinder trotzdem – oder gerade deshalb – ganz wichtige Dinge im Klavierunterricht lernen können.
Gerade in den ersten Wochen, wenn die Schule wieder anfängt, brauchen die Kinder erst einmal Zeit, wieder richtig reinzukommen. Im Klavierunterricht finden sie dafür Raum, indem wir viel improvisieren. Das „Ergebnis“ ist dadurch nicht vorgegeben, man kann nichts wirklich „Falsch“ machen und das hilft dabei, sich auf entspannte Art und Weise mit der Musik zu verbinden und erst einmal wieder durchzuatmen.
Wo bleibt die Leichtigkeit?
Manche Eltern sind besorgt darüber, dass die Kinder einen so vollen Stundenplan haben und zweifeln daran, ob es richtig sei, auch noch ein Instrument zu lernen. Ich kann diese Besorgnis gut nachvollziehen, denn ich bin der Ansicht, dass die Stundenpläne der Kinder zumeist viel zu voll sind.
Ich habe meinen Klavierunterricht so konzipiert, dass er darauf Rücksicht nimmt.
Manche Schüler hatten schon vor dem Unterricht bei mir einen anderen Lehrer und sind ganz erstaunt, wenn ich nicht von ihnen erwarte, dass sie jeden Tag mindestens eine halbe Stunde Klavier üben. Ich finde, das wäre utopisch: wie soll das Kind jeden Tag Zeit dafür finden? Ich denke, dreimal üben die Woche ist genug – und dann bleibt dem Kind hoffentlich noch genügend Zeit, den Dingen nachzugehen, zu denen es einfach Lust hat.
Man kann auf jeden Fall ein Instrument lernen – und es muss nicht schwer gehen, im Gegenteil: Musik macht frei und bringt uns in die Leichtigkeit.
Musik machen und zu sich selbst kommen
Das, was meine Schüler im Klavierunterricht lernen, ist also gar nicht so sehr etwas Zusätzliches, sondern etwas Grundsätzliches:
Lernen geht leicht. Lernen macht Spaß. Ich kann so sein wie ich bin und muss nicht irgendwelchen Ansprüchen genügen, damit ich „besser“ werde oder voran komme. Das passiert nämlich ganz automatisch – wenn ich mich wohlfühle.
Nach der Stunde habe ich Marie noch einmal gefragt, wie es ihrem Kopf jetzt geht. Sie hatte ganz toll mitgemacht, und zwischendurch konnte sie sich bei Mama immer mal auf den Schoß setzen und ausruhen. Marie überlegt einen Moment und sagt dann: „Mein Kopf möchte jetzt schlafen.“
Das zeigt mir, dass sie wieder mehr bei sich angekommen ist und spüren konnte, was ihr gut tut. Und genau das kann die Musik bewirken – wenn wir dem einfach Raum geben.
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